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Mamas Sekretär

Viele Lektionen lehrt Gott mich direkt aus der Bibel. Es passiert, während ich lese, dass Jesus zu mir spricht und mich auf etwas hinweist. Manchmal lese ich auch etwas und wenig später erlebe ich eine Situation, in der das Gelesene in meinem Gedächtnis auftaucht und mir wird klar: ah, so war das gemeint. Dann gibt es aber noch die Lektionen, die still im Alltag passieren. Jesus scheint nichts zu sagen. Es gibt keine Bibelzitate, keine Verse, keine Stimme. Und doch geht Gott jeden einzelnen Schritt mit, scheint den Fokus zu lenken und legt mir neue Gedanken ins Herz. Folgende Lektionen habe ich in den letzten Wochen, beim Ausräumen der Wohnung meiner Eltern, gelernt:

Meine Mama war ein Familienmensch. Sie ging in ihrer Rolle als Mutter auf. Das, gemeinsam mit einem eher geringen Selbstbewusstsein, sorgte dafür, dass sie kaum etwas für sich selbst beanspruchte.

Es war also schon eine kleine Sensation, als meine Mama plötzlich im Wohnzimmer stand und mit fester Stimme einforderte, sie brauche etwas, was nur ihr allein gehöre.

Etwas, wo weder ihr Mann, noch wir Kinder etwas zu suchen hätten. Ihr Hobby sei es zu organisieren und zu schreiben. Und daher wolle sie nun, dass ihr Wunsch nach einem eigenen Sekretär in Erfüllung ginge.

Als Neunjährige wusste ich längst, was ein Sekretär war: Sekretäre schrieben Dinge für den Chef, machten Termine aus, kochten Kaffee und waren immer erreichbar. Und so einen wollte nun meine Mama. Ich war (vorsichtig ausgedrückt) verwirrt. Vor allem, weil mein Vater völlig gelassen reagierte. Papas Kommentar war: „Und wo soll der hin?“

Ja…wo soll der hin, der Sekretär. Das war auch meine Frage.„Ins Schlafzimmer.“, konterte meine Mutter. In mir brach stille Panik aus. Der Platz bei Mama und Papa im Bett war zwischen meiner Schwester und mir ohnehin heiß umkämpft, ich hatte keinerlei Lust, diesen nun auch noch mit ’nem Sekretär zu teilen. Doch meine Mutter hatte schon alles durchdacht:
„Er soll in die Nische. Der Schrank der da steht kommt raus. Dann passt der Sekretär da schön rein.“ Überraschender Weise stimmte Papa zu.

Ich erspare euch die Details meiner kindlichen Fantasie. Erst als der Sekretär bei uns einzog, kapierte ich, dass es sich um eine Art klappbaren Schreibtisch handelte. Und dass meine, sehr sozial eingestellten, Eltern sich nicht plötzlich einen Sklaven zugelegt hatten, der zukünftig in ihrem Schlafzimmer bei Tag und Nacht in der Nische stehen musste. Welt wieder in Ordnung.

Mama liebte ihren Sekretär. Er wurde tatsächlich zu einem Ort, dem sich weder Papa noch wir Kinder ungefragt näherten. Auch nach ihrem Tod mied ich die Nische im Schlafzimmer, wenn auch aus Gründen der Trauer. Bei meinen Besuchen zu Hause, warf ich meist nur einen kurzen Blick in das Zimmer und in die Ecke.

Seit ihrem Tod standen hier immer Blumen. Frische Blumensträuße mit Margeriten und Rosen, Mamas Lieblingsblumen. Papa war nie der große Romantiker. Er zeigte seine Liebe anders, meist, indem er Aufgaben übernahm oder indem er Probleme löste. Blumen waren weder Aufgaben, noch Problemlöser und daher gab es sie nicht. Erst nach Mamas Tod standen sie dort. Ein Ausdruck der Trauer, der Verzweiflung und der Sehnsucht meines Vaters. Ich weiß nicht, was mir schwerer fiel: der Anblick des zugeklappten Sekretärs oder der, der immer frischen Blumen.

Als Papa im Zuge seiner Krebserkrankung immer häufiger ins Krankenhaus musste und ich in dieser Zeit bei ihm zu Hause schlief, setzte ich mich zum ersten Mal, in einer schlaflosen Nacht, an den Sekretär meiner Mutter. Hinter der hochgeklappten Schreibplatte, kamen zwei Schubladen und mehrere Fächer zum Vorschein. Ordentlich sortiert. Der Terminplaner meiner Mutter, den sie mit ihrer zierlichen Handschrift, bis kurz vor ihren Tod geführt hatte. Karten meiner Schwester und mir, die wir aus unseren Urlauben gesendet hatten. Und in den Schubkästen: ihr Tagebuch. Begonnen, als sie dreizehn Jahre alt war. Es ist etwas Besonderes, das Tagebuch der eigenen, dreizehn Jahre jungen, Mutter in Händen zu halten. Darunter ihre „Dream-Box“. Eine Box, in der sie jeden Cent, den sie nicht ausgegeben hatte oder unverhofft geschenkt bekam, sparte. Um sich irgendwann ihren Herzenswunsch zu erfüllen: eine Fahrt mit dem norwegischen Postschiff.

Sie ist nie damit gefahren. Das Geld ist noch in der Box. Unangetastet. Mein Vater hat es kurz vor seinem Tod durch zwei geteilt und meiner Schwester und mir gegeben. Für unsere Träume.

Letzten Monat haben wir begonnen die Wohnung meiner Eltern leer zu räumen. Und der Sekretär ist umgezogen. Mein Mann hat in unserem Schlafzimmer einen Schrank abgebaut und so eine kleine Nische geschaffen. Da steht das Möbelstück jetzt. Ich habe ihn eingeräumt. Nicht ganz so ordentlich, wie meine Mama es gemacht hätte, aber mit all den Sachen, die ich liebe. Denn mein Hobby ist es zu organisieren und zu schreiben. Also haben mein Terminplaner, meine Bibel, mein Notizbuch, meine Lieblingsstifte und mein Laptop hier ihr neues zu Hause gefunden.

Dann habe ich meinen Sekretär mit den Teelichthaltern dekoriert, die Papa mir, nach Mamas Tod, in steter Regelmäßigkeit von seinen Urlauben an der Nordsee mitgebracht hat. Diese Geschenke sind ein für mich neuer Ausdruck seiner Liebe.

Geschenke, die in ihrem Zweck überflüssig waren, die keine Probleme lösten und keine Alltagsaufgaben übernahmen. Gegenstände, die für das Überflüssige, aber Schöne, wie Blumen und Kerzen gemacht wurden. Darunter war auch eine kleine Schale, in die er Sand meines Lieblingsstrandes in Dänemark gefüllt hatte. Auch diese kleine Schale steht nun auf dem Sekretär.

Durch den Sekretär, seinen Umzug und sein in-Besitz-Nehmen, habe ich einige wichtige Lektionen gelernt:

  • Finde einen Ort, an dem du dich zurückziehen kannst. Sorge dafür, dass das von deinem Umfeld respektiert wird. Dieser Ort muss nicht groß sein. Manchmal reicht eine Nische.
  • Zeige den Menschen um dich herum, dass du sie liebst. Trau dich, dabei kreativ zu sein.
  • Habe ein ‚Geheimfach‘, in dem du deine schönsten Erinnerungen und deine größten Träume für die Zukunft aufbewahrst. Lass niemanden hinein sehen, wenn du das nicht möchtest. Rechtfertige dich nicht dafür.
  • Springe über deinen Schatten und setze deine Träume um, du hast nicht ewig Zeit. Sei mutig.
  • Trau dich, Dinge aus der (familiären) Vergangenheit neu zu gestalten, neu zu bewerten und sie zum Teil deiner Gegenwart zu machen. Oder lass sie los, wenn sie nicht mehr zu dir gehören sollen.
  • Wertschätze Gesten und Geschenke, die dir von liebenden Menschen gemacht wurden.

7 Comments

  • Bekks

    Liebe Tine!
    beim Lesen eben habe ich einen Lachflash gehabt und als 2 Minuten später DoSi das Zimmer betrat, und fragte, was mich so amüsieren würde saß ich heulend vor dem Bildschirm. Er war leicht irritiert.. 😉
    Du schaffst es, mit einem kleinen Text große Emotionen auszulösen – das ist echt eine Gabe. Wie ich schon sagte, ich freu mich auf den ersten Roman von Dir :-)))))
    Danke, dass Du Dein Leben und Deine Gedanken mit uns teilst! Kuss!!!

    • Tine

      Du bist so toll. Ich musste so lachen, als ich deinen Kommentar gelesen habe. Der arme DoSi, ich kanns mir bildlich vorstellen.

      Fühl dich feste gedrückt.

  • Christina

    genau wie Becky geschrieben hat: Wunderbar! Mir stehen auch die Tränen in den Augen. Was für ein Erbe, das du da gerade in Besitz nimmst (und damit meine ich nicht nur den Sekretär!)
    Ich drücke dich und danke dir. Diesen Post will ich mir nochmal in RUhe durchlesen. Da ist sooo viel Weisheit drin.

    • Tine

      Danke, du Treue. Aktuell sind in den großen Fächern unter der Arbeitsplatte noch deine Bücher. Ich sollte die dir demnächst mal zurück geben. Hab das Gefühl euren halbe Bibliothek entführt zu haben. 😳

  • Katrin

    Es freut mich, dass er bei dir ein neues Zuhause gefunden hat und da genauso wertvoll ist wie vorher. Auch wenn es „nur“ ein Möbelstück ist, hängen viele Erinnerungen dran. Und durch die Kerzen sieht es auf dem Bild so aus, als wäre das Leben zurück gekommen. Jetzt muss er nicht mehr alleine in der Ecke stehen 😉

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