Privileg
Einmal im Jahr fahren mein Liebster und ich nach Dänemark in unseren Jetzt-ist-mal-alles-egal-Urlaub. Und da ich tatsächlich am besten entspannen kann, wenn ich eine vertraute Umgebung um mich habe, fahren wir gezielt an den gleichen Ort, in das gleiche Haus und ich pflanze meinen Hintern sofort nach dem Auspacken der Koffer in die gleiche Couchecke. Da sitze ich dann und schaue zu, wie Achim Feuer im Kamin macht. Und wenn ich den Kopf um ca. 45 Grad nach links drehe, kann ich das Hafenbecken und dahinter das Meer sehen. Die wilde, wunderbare Nordsee.
Oft haben wir für diese Art von Urlaub fassungsloses Kopfschütteln erhalten. „Jedes Jahr an den gleichen Ort? Nach Dänemark?! Freiwillig? Im Winter? Ist das nicht furchtbar langweilig? Da passiert doch nichts, da sind doch nicht mal Menschen!“ – Ganz genau.
Wir fahren Anfang des Jahres an diesen kleinen Fischerort an der dänischen Westküste. In diesem Ort ist im Sommer schon nicht viel los und den Gebäuden nach zu urteilen, ist die größte Attraktion ein Eisstand am Hafen. Der hat aber um diese Jahreszeit geschlossen. Genau so wie der Tante Emma Laden. Und damit ist das öffentliche Leben praktisch schon beschrieben. Der Strand ist wie leer gefegt. Nur Möwen, Wellen, Wind und wir. In dieser Umgebung kann ich entspannen, mich vom Wind durchpusten lassen und schließlich mit einer Tasse heißen Kakao und einem guten Buch vor dem Kamin versacken. Oder mit einem drei Fragezeichen Hörspiel und einem Glas Sekt in der Wanne sitzen. (Fragt mich nicht woher diese Kombi kommt, sie macht aber unglaublich Spaß.)
Auch zwischen Jesus und mir ist diese Zeit besonders. Anders als zu Hause habe ich in Dänemark keine feste Zeit, in der ich bete oder Bibel lese. Manchmal sitze ich morgens mit Bibel oder meinem Notizbuch auf der Couch, schaue übers Wasser und merke, wie Gott sich dazu setzt. Ganz still. Manchmal schalte ich aber auch so ab, dass weder Achim noch Jesus viel mit mir anfangen können.
Bei unserem letzten Urlaub gab es wieder mal diese Tage. Ich habe gerade ‚Girl on the train‘ fertig gelesen und bin das erste Mal seit zwei Tagen wieder ansprechbar. Als ich aus dem Buch auftauche, ist es draußen bereits dunkel. Mit einem schlechten Gewissen (ich habe mich um nichts gekümmert; nicht ums Essen; nicht um meinen Mann; ich glaube ich habe nicht mal geduscht) schiele ich zu Achim, der allerdings nur fröhlich grinst. „Hallo, wieder da?.“
Ich grinse zurück.
Während ich langsam in der Realität ankomme und versuche die Buchgeschichte abzustreifen, nehme ich noch ein zweites, stilles „Hallo.“ wahr. Und diesen leichten, aber vertrauten Drang. Dieses Anschieben, das nicht aus mir selbst kommt. Jesus ruft mich. Und er ruft mich nach draußen. Etwas ungläubig schaue ich hinaus in die pechschwarze Nacht. Es kann sehr dunkel sein, wenn man in einem schlafenden Fischerdorf in Dänemark ist. Beängstigend dunkel. Ich beginne etwas unruhig auf der Couch herum zu rutschen. Vielleicht habe ich mich ja verhört. Bestimmt sogar.
Plötzlich schaut Achim von seinem Computerspiel auf, in das er sich seit ein paar Tagen verkrochen hat. (Er gehört zu den Menschen, die dabei wirklich entspannen können. Es ist mir ein Rätsel, aber es funktioniert.)
„Du, was hältst du davon raus und an den Strand zu gehen?“ Ich seufze und muss dann lachen. Natürlich. So ein Zufall.
Zehn Minuten später stehen wir, dick eingepackt und mit einer Taschenlampe bewaffnet, draußen am Hafen. Es ist eine nahezu windstille Nacht und das Meer ist ungewöhnlich ruhig. Wir gehen vom schwach beleuchteten Hafen über die Dünen an den Strand. Das letzte Licht des Hafens verschwindet.
Vor uns liegt die Nordsee. Und sie ist noch schwärzer als die Nacht. Es gibt keinen Horizont, keinen Punkt, an dem sich das Auge noch festhalten könnte. Die Weite und die Gewalt des ruhigen Wassers ist erschlagend. Es scheint mich gleichzeitig hinaus und hinunter zu ziehen und ich merke wie Panik in mir aufsteigt.
Die Hände in den Taschen zu Fäusten geballt braucht es einige Zeit, bis ich den Gefühlscocktail, der in mir explodiert ist, soweit im Griff habe, so dass ich nicht kopflos zurück ins Haus renne. In mir ist etwas aufgestiegen, das ich kaum beschreiben kann. Angst? Das trifft es nicht. Furcht. Ehrfurcht. Unruhe. Gleichzeitig fühle ich mich beeindruckt, hingezogen, erschrocken und…ja…vergänglich. Das hier ist viel zu groß für mich. In mir hallt einer der ersten Verse der Bibel.
„Und der Geist Gottes schwebte über dem Wasser.“
Ich hatte mir den Geist Gottes immer als kleinen Lichtpunkt über dunklem Wasser vorgestellt. Aber er ist kein kleiner Lichtpunkt. Er ist mächtig. Omnipräsent. Soviel umfassender als die Gewalt des Wassers unter ihm. Mein Herz hämmert. Ohne es zu merken, habe ich mich von Achim zurück in die Dünen führen lassen. Dort zieht er mich neben sich in den Sand und wir liegen, Seite an Seite, in einer Lücke aus Schilfgras und schauen in den Himmel. Eine kurze Pause von der erschlagenden Dunkelheit vor mir. Doch kaum sehe ich nach oben, beginnt mein Herz wieder zu rasen. Sterne. Ich hatte sie vorher nicht wahr genommen. Aber sie sind da. Tausende. Wie ein riesiger Diamantteppich hängen sie über uns.
Still und ehrfürchtig liegen wir im Sand. Jeder hängt seinen eigenen Gedanken nach.
Und dann passiert es. Ein kleiner Lichtpunkt löst sich aus der Szenerie über uns und zieht in einer hellen Spur über den Himmel, bis er im Nichts verschwindet.
„Die ist für dich.“, nehme ich leise in meinem Herzen wahr.
Mir steigen Tränen in die Augen. Als kleines Mädchen war es mein größter Wunsch eine Sternschnuppe zu sehen. Es war dieser Wunsch, den ich heimlich bei jeder ausgeblasenen Geburtstagskerze hatte. Einmal fragte mich der Vater eines Freundes, was ich mir gewünscht hätte. Er bohrte so lange, bis ich es ihm verriet. Daraufhin lachte er auf und meinte fröhlich: „Jetzt hast du’s verraten, jetzt geht’s nie in Erfüllung.“ Als Kind brach für mich eine Welt zusammen. Das war ganz schön fies.
Und nun? Nun hab ich einen Vater, dem alle Sterne und Sternschnuppen gehören. Und er findet gar nicht, dass dieser Geburtstagswunsch nicht in Erfüllung gehen kann. Still und mit Tränen in den Augen liege ich da und bette das eben geschehene in meine Erinnerung ein. Es bekommt einen besonderen, mit Samt ausgeschlagenen, Platz in meinem Gedächtnis.
Als die Kälte langsam durch unsere Jacken kriecht, machen wir uns auf den Rückweg. Noch immer jagt mir die dunkle Gewalt des Meeres Furcht über den Rücken, während in meinem Innern die tiefe Dankbarkeit, das Vertrauen und die neue Perle meiner Erinnerung glühen.
Vielleicht, ja bestimmt, ist es so, dass wir in unserem Leben mit Jesus beides brauchen: eine Ahnung davon, dass wir es eben nicht nur mit einem Freund und Bruder zu tun haben, der sich für uns auf Augenhöhe begeben hat. Sondern, dass er auch der Schöpfer ist, der Herr über alle Gewalten. Mächtig, unbegreiflich und nicht kontrollierbar. Und gleichzeitig diese stille Gewissheit und die Erfahrung, wie nah, liebevoll, beschützend und vorsichtig dieser allmächtige Gott mit uns umgeht.
Mit diesen Gedanken und Erinnerungen starte ich nun in die Vorbereitungswoche zum ’neuen Jahr‘. Ich bin neugierig, was Gott vor hat. Und ich bin unendlich dankbar für die Pause, die er mir geschenkt hat. Ich durfte schlafen (aufgrund von schlechtem Wetter….wirklich sehr schlechtem Wetter…hab ich sogar deutlich mehr Schlaf abbekommen, als ich vorhatte), ich durfte gutes Essen genießen und vor allem durfte ich viel Nachdenken und Sortieren. Was für ein Privileg.
7 Comments
Sonja
Liebe Tine! So schön und unbegreiflich, deine Begegnung mit dem Schöpfer-Gott. Vielen Dank, dass du das geteilt hast und uns mit hineinnimmst in diese Begegnung. Gerade gestern habe ich mit einer Freundin darüber nachgedacht, dass Er eben nicht „nur“ der Vater ist, sondern auch der König, der Herrscher, der Freund… diese verschiedenen Aspekte sind irgendwie unbegreiflich für uns. Jedes Schnipselchen Erkenntnis führt in Anbetung und Ehrfurcht. – Und eure Ferien finde ich wunderbar. Mein Mann und ich haben uns vor zwei Jahren nach Schweden auf eine Mini-Insel (Käringön) zurückgezogen, im November. Und es war genau das, was wir gebraucht haben! Alles Liebe dir! Sonja
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Tine
Bei dem Gespräch wäre ich gerne dabei gewesen. Es ist so schön, wenn man Freunde hat, mit denen man solche Gedanken teilen und ihnen nachspüren kann.
Und das mit der Mini-Insel klingt fantastisch!! Schweden. Im November. Mit dem Lieblingsmenschen. Auf einer Insel. Hammer!
Judith
Hallo Tine,
ich bin über den Blog „den Spatz in der Hand“ auf deinen Blog „Nur Heute“ gestoßen und lese schon etwas länger mit! Heute möchte ich dir mal danke dafür sagen, dass du es gewagt hast und „online“ mit deinen ganzen Gedanken und Gefühlen gegangen bist! Sie sind für mich immer wieder ein Anstoß zum Nachdenken, Mitfühlen, Schmunzeln und Erkennen (das ich nämlich ganz oft nicht alleine bin mit Ängsten, Sorgen etc.)…
Ich freue mich richtig mit dir über den schönen Urlaub in Dänemark… das hört sich so toll an! Und das mit dem Versinken und Eintauchen beim Lesen…das kenne ich auch nur zu gut!
Liebe Grüße
Judith
Tine
Das freut mich so sehr zu hören.
Oft hadere ich noch mit manchen Dingen. „Kann ich das so schreiben? Halten die mich dann nicht alle für bekoppt.“ Etc.
Da tun mir Kommentare wie deiner so gut. 🙂 Danke!
Katrin
Das ist wirklich eine beeindruckende Geschichte. Als wäre man selbst dabei gewesen. Ich wünsche euch, dass ihr jedes Jahr eine so tolle Auszeit habt und auftanken könnt!
die Vorgärtnerin
ich les das später zu Ende.
Ich bin dieses Jahr im Juni drei Wochen auf Borkum gewesen, aber danach bin ich derart hart im Alltag aufgeschlagen, dass ich mich schon nach drei weiteren Wochen fühlte, als wäre ich seit Monaten nicht am Meer gewesen.
Da überkommt mich eine derartige Sehnsucht, eine Seensucht eben …
Ob ich das dieses Jahr noch mal schaffe? Ans Meer, den ganzen Sch*** hinter mir lassen?
Tine
Oh nein, das klingt fies. Ich hoffe sie kommen immer mal wieder und überraschen dich, die schönen Momente, wo es plötzlich ruhig wird und du Luft holen kannst; ein wenig Abstand gewinnst. Auch wenn das Meer natürlich nur schwer zu ersetzen ist. Ich drücke dir fest die Daumen, dass du es bald wieder an die Küste schaf