Nachdenken am Meer
Es ist wieder soweit. Morgens um drei klingelt der Wecker. Ich schrecke hoch, gerade erst in einen unruhigen Schlaf gefallen. Die Koffer sind bereits im Auto, der Kühlschrank leer, die Wohnung verstörend sauber. Ich schlüpfe in die Klamotten und packe die Bettdecken ein, denn die müssen mit. Dann geht es los: unsere zwei Wochen an der dänischen Nordseeküste beginnen.
Ich habe die letzten Nächte kaum ein Auge zugemacht, was dazu führt, dass ich auf dem Beifahrersitz einschlafe, sobald wir auf der Autobahn sind und erst kurz nach Hamburg wieder aufwache. Na also, beamen funktioniert ja doch. Zumindest wenn man mich fragt. Der Rest der Fahrt ist ein Klacks. Mein Mann schaut nach 1100 km dann aber doch etwas achteckig aus seinem Gesicht heraus. Beamen verträgt halt nicht jeder gleich gut.
Im vertrauten Ferienhaus angekommen: Meine Couch, mein Feuer, mein Platz am Meer. Draußen…schneit es. Nicht nur ein bisschen, sondern Schneesturm. Es ist alles weiß. Ich kuschle mich in die mitgebrachten Decke, baue meine Bücher um mich herum auf und starre nach draußen. Mein Mann öffnet eine Flasche Wein und wir stoßen auf meine zwei liebsten Wochen im Jahr an. Knopf auf ‚Entspannung‘, es kann losgehen.
Doch diesmal ist irgendetwas anders. Ich bin unruhig. Diese Unruhe brodelt seit Wochen unter der Oberfläche.
Vier Tage später gebe ich es auf lesen zu wollen. Die Geschichten wollen mich nicht gefangen nehmen. Nicht einmal Hörbuch in der Badewanne klappt – das gab’s noch nie. Ich beginne durch die Wohnung zu tigern. Eigentlich sollte ich raus, aber tief in mir drin weiß ich, dass ein Spaziergang am Meer Klarheit in meine Gedanken bringen wird – und eigentlich will ich mich dem gar nicht stellen. Doch es wird nicht besser. Also gehe ich.
Viele Menschen brauchen die Berge, um sich frei zu fühlen. Wenn sie den Weg nach oben geschafft haben und dann den Blick in die Weite genießen können, löst sich etwas. Das Atmen wird leichter, das Begreifen und bewusste Loslassen auch. So ist es bei mir mit dem Meer. Wenn ich das Salz rieche und mich vom kühlen Wind durchpusten lasse, dann kann ich plötzlich atmen. Dann wird das, was eng war in der Brust, langsam weit. Die Gedanken werden klarer. Das Meer ist groß und gewaltig, so dass ich mich selbst nicht mehr wichtig fühle. Das hilft mir, auch meine drückenden Gedanken nicht mehr als so absolut anzusehen, wie sie sich gerne darstellen.
Als es endlich nach oben bricht, kommen die Tränen gleich mit und ich bin einmal mehr dankbar, dass um diese Jahreszeit (und diesem Wetter) niemand außer ein paar Möwen und mir am Strand unterwegs ist. Die Möwen lachen, ich weine. Guter Ausgleich.
Wie füllt man die Lücken, die das Sterben von lieben Menschen hinterlassen hat? Die Trauer um meine Eltern kommt in einer riesigen dunklen Welle, die mein innerstes unter sich begräbt.
Der Tod meiner Mutter war viel zu früh. Er hat Entsetzen, Verzweiflung und Hilflosigkeit zurück gelassen. Verdrängen war der einzige Umgang den ich für mich als gangbaren Weg gefunden habe. Nicht sehr elegant, aber man nimmt, was man kriegt. Sieben Jahre ist das her. Nun, mit dem Tod meines Vaters, drängt diese ver-drängte Trauer nach oben. Mit aller Gewalt will raus, was ich so sorgfältig verbuddelt habe.
Hier an diesem Strand, sind wir spazieren gegangen, sie und ich. Stundenlang. Meine kleine Schwester wie ein Satellit um uns herum rennend, während ich mich mit meinen zwölf Jahren unfassbar erwachsen gefühlt habe und mit meiner Mama Erwachsenengespräche führte. Sie fehlt mir so schrecklich. Mir fehlen die Gespräche. Mir fehlt ihr Lachen. Mir fehlen ihre Träume die sie hatte und die nun heimatlos umher treiben. Und mir fehlt ihre Sicherheit und Zuversicht. Ihr Trost, den eben nur eine Mama geben kann.
Wir alles spüren, dass der Tod nicht dazu gehört. Wenn alte Menschen sterben, dann kann man das noch akzeptieren. Vor allem dann, wenn das Alter bereits das Leben aufgezehrt hat, Menschen ans Bett fesselt, blind und taub gemacht hat. Doch spätestens wenn Menschen durch Krankheit oder einen Unfall mitten aus dem Leben gerissen werden, dann spüren wir, dass es so nicht sein sollte. Wenn kleine Kinder zurückgelassen werden oder schlimmer noch: selbst betroffen sind. Das ist nicht richtig. Das ist grundlegend falsch. Der Tod ist ein Fehler in der Matrix.
Wir sind zum Leben erschaffen, an der Seite eines lebendigen Gottes.
Die Bibel sagt, dass der Tod die Folge von der Trennung von Gott ist. Er hatte es so nicht gewollt. Aber der Mensch wollte. Gott hat in einer riesigen Liebesaktion diese Trennung aufgehoben. Wer sich nun an Jesus hält, der wird leben (auch wenn er stirbt). Das Sterben wird zum Übergang, so wie die Geburt ein Übergang ist.
Mitten in meiner Trauer am Meer, hallen diese Gedanken durch mein Inneres. Sie geben auf eine emotionale Art und Weise Sinn. Aber die Löcher in meinem Leben stopfen sie nicht. Manche Worte in der Bibel sind mir so vertraut, dass ich aufpassen muss, dass sie nicht hohl werden.
Die Worte sind wahr und sie enthalten den größten Trost, den es nur geben kann. Ich packe sie in ein Seidentuch und lege sie an eine geschützte Stelle in meinem Inneren. Heute, an diesem Tag am Meer, können sie den Schmerz über den Verlust nicht stillen. Heute ist kein Tag, an dem ich mich trösten lassen kann. Heute ist ein Tag wo ich endlich, endlich, Schreien, Weinen und Klagen kann. Laut und verzweifelt. Und es tut gut.
Abends liege ich erschöpft im Bett, die Hand auf den Worten im Seidenpapier. Sie sind warm und fest. Sie sind wahr. Vielleicht packe ich sie morgen aus. Oder nächste Woche. Bis dahin klage ich und bin traurig. Und das ist gut so.
Noch eine kleine Anmerkung, weil es auf diesem Blog ja vor allem um Ehrlichkeit geht: Ich habe es nicht geschafft mich kopfüber in die Trauer zu stürzen, wie es vielleicht sinnvoll gewesen wäre. Ich habe immer mal wieder rein gehorcht und den Rest der Zeit sehr effektiv mit dem Schauen von The Big Bang Theorie zugebracht. Auf englisch und deutsch. Abwechselnd. Es lebe die Verdrängung ;-). Aber der Prozess hat angefangen und nun gehe ich ihn Schrittweise und sehr langsam. Ich denke es braucht Zeit.
2 Comments
Katrin
Was für eine traurige Geschichte. Und was für schöne Bilder. Danke, dass du sie mit uns teilst!
Becky
„… Das ist nicht richtig. Das ist grundlegend falsch. Der Tod ist ein Fehler in der Matrix.“
So wahr. Und es tut mir so unglaublich leid, dass Du – und andere liebe Menschen im Umfeld das so erleben und erleiden müssen. Und ich wünsche Dir so sehr, dass Du das, was bei Dir jetzt angefangen hat aufzubrechen an Trauer, in der Geborgenheit bei Jesus erleben darfst, dass er nicht dazu schweigt, sondern Dich an sich drückt, so fest, so fest….