Trauer

Der leere Platz – Stranderinnerungen

Mein Mann hantiert im Flur, ich höre das Schleifen der Reisetasche über Fliesen. Es muss mitten in der Nacht sein. Draußen ist es noch stockfinster. Ich bin wohl wieder eingeschlafen, denn als ich die Augen erneut aufmache, steht er neben mir und flüstert. „Komm, lass uns losfahren, das Meer wartet. Du kannst im Auto noch ein wenig schlafen.“ Während ich in meine Kleidung schlüpfe und auf dem Weg zum Auto notdürftig versuche mit den Fingern eine Frisur aus meinen verknoteten Haaren zu machen, blitzen Bilder von früher wieder auf:

Die leisen Stimmen meiner Eltern, die mich wecken. Mein Schlaf war schon immer leicht, selbst als Kind. Draußen ist dunkle Nacht. Um diese Zeit fühlt sich die Wohnung anders an, fremd. Vielleicht ein bisschen nach Abenteuer. Ich weiß nicht, ob ich das mag. Die Stimmen meiner Eltern sind zwar vertraut, klingen um diese Uhrzeit und geflüstert aber dennoch ungewohnt. Ich bleibe im Bett, warte. Bis die Tür aufgeht und meine Mutter mir sanft über die Stirn streichelt. „Aufwachen, mein Schatz. Wir fahren in den Urlaub.“

So war es immer: mein Vater peilt fünf Uhr morgens an, beschließt gegen 24 Uhr ins Bett zu gehen und gegen zwei Uhr, dass er eh nicht schlafen kann. Kurz vor drei fahren wir dann los. Die Straßen leer, die Stimmung kribbelig, das Auto in bester Tetris-Manier bis auf den letzten Zentimeter gefüllt.

Und irgendwann, sind wir da. In Dänemark. Am Meer. Beim Öffnen der Autotüren schlägt uns Wind entgegen. Immer. Hier ist immer Wind. Angereichert mit dem Geruch von Salz und der leichten Fischnote vom nahen Hafen. Wir holen die Schlüssel für das Ferienhaus. Zum Meer gehen wir alle zusammen. Die letzte Düne ist am steilsten. Ich krabble auf allen vieren hoch und genieße den weichen Sand unter meinen Fingern und die plötzliche Windböe, wenn man den Kopf über den Rand der Düne schiebt. Dann taucht es auf – das Meer. Es verschlägt mir die Sprache, ich kann nicht mehr atmen. Jedes Mal. Angst krabbelt in mir hoch. Das Meer ist so weit, so gewaltig. Es wird ein paar Tage dauern, bis ich mich an den Anblick und an das Gefühl in mir, das dieser Anblick auslöst, gewöhnt habe. Aber dann werde ich entspannt am Strand spielen können und mich sogar in das Meer hinein trauen.

Mit den Jahren weichen die Sandburgen den Strandspaziergängen. Meine Mama ist neben mir und ich fühle mich unglaublich erwachsen, wenn wir uns unterhalten. Inzwischen sind meine Fußabdrücke im weichen Sand fast so groß wie ihre. Sie interessiert sich für meine Ansichten und erklärt mir ihre. Wir kommen von einem Thema zum nächsten, während unsere Vertrautheit wächst. Mit den Jahren hat sich unsere Beziehung verändert. Längst bin ich ausgezogen, lebe und arbeite in einer anderen Stadt, aber in den Urlaub begleite ich meine Eltern noch. Mama ist meine Freundin geworden, die mich besser kennt, als jeder andere Mensch. Sie hat es geschafft mir Freiraum zu geben, auch da, wo sie meine Ansichten nicht teilt. Und ich habe begriffen, dass es nicht meine Aufgabe ist, sie zu erziehen.

Noch heute löst der Anblick des Meeres ein leichtes Kribbeln in mir aus. Die pure Weite erschlägt und fasziniert mich gleicher Maßen. Das Gefühl und die Gerüche knüpfen an meine Kindheit an und erreichen Räume, die ich ohne sie nicht öffnen könnte. Hier, an diesem speziellen Strand, liegen Glück und Schmerz nah beieinander. Hier hat meine Mutter ihren letzten Urlaub verbracht, bereits von der Chemo geschwächt, aber unwillig auf das Meer zu verzichten.

Heute gehe ich allein am Strand entlang. Mein Mann ist in der Nähe, aber hier am Meer ist jeder von uns in seiner eigenen Welt. Ich spüre den kühlen, nassen Sand unter meinen Füßen, weiche immer mal wieder einer vorwitzigen Welle aus, die unerwartet weit über den Strand schwappt. Der Platz an meiner Seite ist leer und wird es auch bleiben. Manche Menschen hinterlassen Lücken in unserem Leben.

Schmerzhafte Lücken. Doch wenn ich ehrlich bin, dann finde ich das auch gut so. Ich finde es beruhigend, dass Menschen nicht einfach ersetzbar sind. Ich finde es beruhigend, dass Menschen mehr sind, als nur die Bedürfnisse, die sie in uns befriedigen.
Ich habe gute Freunde und einen liebevollen Mann. Meine Seite ist nicht wirklich leer. Aber dieser eine spezielle Platz wird unbesetzt bleiben. Das tut weh und manchmal kommt Verzweiflung hoch und brennende Sehnsucht. Vor allem hier am Strand. Gleichzeitig ist hier der Ort, an dem ich mich gerne und dankbar zurückerinnere, an eine Zeit mit einem wundervollen Menschen. Einem Menschen, der eine Lücke hinterlassen hat, weil er für mich so viel war und so viel in mich investiert hat. Ein Mensch, der an mich geglaubt hat, unabhängig von meinen Leistungen und meinen Launen. Danke, Mama. Ich liebe Dich.

4 Comments

  • Christina

    Was für ein wunderschönes BIld von Dir, liebe Tine! Und DANKE für den Text. Am Ende stehen mir die Tränen in den Augen. Wie wahr, dass die Lücken auch gut sind. Freie Plätze, die nicht wieder besetzt werden, sondern dankbare Erinnerung bleiben, an die Menschen die einzigartig in diesem Leben für uns waren. Ich umarme dich!!! Wie gerne wäre ich jetzt bei euch am Meer…..

  • Sonja

    Liebe Tine, mir geht es genau gleich wie Christina. Dein Text berührt mich sehr und verändert meinen Blick auf meine eigenen Lücken. So schön beschrieben! Danke!

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