Der Küchentisch
Der Mittelpunkt in der Wohnung meiner Eltern war der Küchentisch. Es war ein kleiner rechteckiger Tisch, an dem vier Personen bequem Platz hatten – sechs Personen, wenn man ein wenig quetschte. Normalerweise saßen zwei Leute auf der Eckbank und zwei auf Stühlen.
Der Tisch war immer sauber abgewischt und mit einem Deckchen geschmückt. An normalen Tagen in rot oder blau. Zu Ostern und Weihnachten mit passenden Mustern.
Der Tisch diente als Treffpunkt für die Familie. Morgens beim Frühstück, stapelten sich zwischen den Teetassen die Schulhefte, in der Hoffnung, dass zusammen mit dem Marmeladenbrot auch die ein oder andere Englischvokabel reinrutschen würde. Und Mittags, wenn wir Kinder von der Schule kamen, die schweren Rucksäcke in die Ecke werfend, stand Mama meist schon mit dem Rücken zum Tisch in der Küche am Herd. Eine Schürze über dem eleganten malvenfarbenen Kostüm, das sie am Vormittag im Büro getragen hatte, die Brille beschlagen vom Wasserdampf. Auf den Tisch kamen Spinat mit Kartoffeln und Spiegelei, mein Donnerstags-Lieblingsessen. Dafür lohnte es sich auch die Doppelstunde Mathe zu überleben.
Nachmittags war der Tisch das Zentrum für die Hausaufgaben, für den Nachmittagskakao, für malen, basteln und Gesellschaftsspiele.
Der Tisch hat unser gesamtes Familienleben mitbekommen. Hier wurden aufgeschlagene Knie verarztet, wurde getröstet und versorgt. Hier fanden die Gespräche statt. Erst über Freunde und die Schule. Später, als der Kakao schon dem Kaffee gewichen war, auch über Lebensträume und Liebeskummer.
Einmal im Jahr verschwand der Tisch unter Bergen von Prospekten für Ferienwohnungen. An ihm wurde diskutiert über zwei oder drei Wochen, Dänemark oder Österreich, über Fahrräder auf dem Autodach oder Wanderstiefel im Kofferraum.
Für Familienfeiern konnte der Küchentisch durch zwei weitere Platten vergrößert werden, die unter dem Tischplatte versteckt waren. In unserer Familie hieß das: „Den Tisch ausziehen.“ (Erst jetzt fällt mir auf wie herrlich vieldeutig dieser Begriff ist.) Der Mechanismus war ausgeklügelt, teuer und funktionierte nie reibungslos. Am Ende tat der Tisch was er sollte – nämlich größer werden. Aber es stellte sich immer die Frage ob er das vor oder nach dem Wutanfall unseres Vaters tun würde.
Heute sitze ich allein an diesem Tisch. Das lasierte Holz unter meinen Fingern fühlt sich noch so an wie immer. Dankbarkeit macht sich breit, bei all den glücklichen Erinnerungen. Und Traurigkeit. Unsere Küche in Waiblingen ist zu klein um ihm ein neues zu Hause zu schenken und auch bei meiner Schwester wird er keinen Platz finden. Noch steht er hier, in der verlassenen Wohnung. Noch kann er hier stehen. Und mitbekommen, wie wir an den Feiertagen wieder im alten zu Hause eintrudeln. Mit unserem Wochenendgepäck, den Geschichten aus unseren Leben, die so viel größer geworden sind. Neue Menschen kamen dazu, unsere Ehemänner und das kleine Töchterchen meiner Schwester.
Und seit kurzem quetschen sich auch Tante und Onkel, zu denen ein neues und enges Verhältnis entstanden ist, zu uns an den Tisch.
Wir werden ihn wohl ausziehen müssen.
2 Comments
Nicola
Das liest sich wunderschön. LG
Katrin
So ein toller Text, danke für die schöne Erinnerung!