
Am Bahnsteig
Man weiß selten, was Glück ist, aber man weiß meistens was Glück war.
(Françoise Sagan)
Es ist kalt und zugig hier. Unterschiedliche Sprachen und Dialekte dringen wie durch einen Nebel zu mir durch, ohne mich zu berühren. Vor allem das Fränkische sticht heraus. Rentnergruppen, wild diskutierend, ob es den ‚Lebbkuung‘ (Lebkuchen) gebraucht hätte oder nicht. Nein, denn man sei eh schon zu dick. Ja, denn wenn man schon mal in Nürnberg ist, brauchts ‚a an Lebbkuung‘. Mein Gleis ist das Vorletzte des Bahnhofs und daher zerre ich den Koffer mit seinen blockierenden Rollen durch den schneematschfeuchten Tunnelgang. Es war ein Fehler. Jetzt wo ich mich hier, übernächtigt und verfroren, zu meinem Zug schleppe, schmecke ich den Fehler. Er klebt an meinem Gaumen und hinterlässt einen bitteren Geschmack sobald ich schlucke.
Als ich aus dem Aufzug, der mich aus der Unterführung hoch zum Bahnsteig gebracht hat, trete, faucht mir der Januarwind sein ‚herzlich Unwillkommen‘ entgegen . Der Zug ist, wie früher, in mehrere Abschnitte geteilt. Wenn man den falschen Abschnitt wählt, landet man wahlweise (oder überraschungsweise) in Bayreuth, statt in Hof. Wird auf dieser Fahrt wieder jemandem passieren. Ich steige in den richtigen Wagon. Routiniert. Obwohl das letzte Mal fast 14 Jahre her ist. Damals noch dreckige Wäsche und die Studiensachen im Gepäck. Heute saubere Wäsche und meine Texte und Ideen. Ein Anachronismus. Es ist der richtige Ort, es ist nur die falsche Zeit. Oder der falsche Ort für die richtige Zeit? Ich selbst fühle mich falsch. Fremd.
Als die Bahn anfährt – auf den Minutenschlag genau, wie die Dame neben mir die nächste viertel Stunde engagiert betonen wird – muss ich mich zwingen, nicht auf ein trügerisches Gedankenspiel herein zu fallen. Mir nicht vorzustellen ich sei noch Anfang zwanzig. Eine Studentin auf dem Weg nach Hause, in ihre kleine Welt. Vertaut, voller Liebe und Struktur. Mein Kopf sucht nach Entlastung von all den gegenwärtigen Emotionen und es wäre leicht sie ihm kurz zu gönnen. Nur das Wissen um den Moment des Aufwachens, der unweigerlich kommen würde, hält mich davon ab.
Ich bleibe im Hier und Jetzt. Erwachsen. Auf meiner Reise durch diese Welt die ich so oft nicht verstehe. Ich drehe die Musik in meinen Kopfhörern ein wenig lauter, und kuschle mich in Gedanken an Jesus. Die Quelle meiner Sicherheit und Zuversicht. Während draußen die weiße Welt an mir vorbeizieht, kommt mir Psalm 90 in den Kopf: „Tausend Jahre sind in deinen Augen so kurz wie ein gerade vergangener Tag – sie sind nicht länger als ein paar Stunden in der Nacht.“
Gott hält alles sicher und vorsichtig in seiner Hand. Meine manchmal schmerzhaft leuchtenden Erinnerungen und die noch im Dunkel liegende Zukunft, in die ich halb ängstlich, halb erwartungsvoll sehe. Und in der Gegenwart lebt er mit mir. Hält mich fest und durchlebt jeden Augenblick.
Ohne es zu merken hat sich der bittere Geschmack in meinem Hals verflüchtigt.
Es war kein Fehler diese Zugfahrt zu machen. Mich nicht von meinen Eltern, sondern von einem alten Freund am Bahnhof abholen zu lassen und meine Heimatstadt zu besuchen. Mit neuen Augen und dankbarem Blick. Nicht nur für die Vergangenheit, sondern vor allem für Gegenwart.
Mein Handy vibriert. Die ermutigende Nachricht eines lieben Menschen zwinkert mir entgegen und ein ehrliches Lächeln breitet sich auf meinem Gesicht aus. Ich zwinkere zurück.