alltägliches

Eine Stunde bevor die Zeit anfängt

Ein neuer Tag startet. Irgendwann demnächst. Auf dem Sessel sitzend, eine Tasse mit heißem Tee in der Hand, bin ich in ein kleines Zeitloch gerutscht. Es ist, als würde hier die Uhr nicht ticken, die Zeit keine Bedeutung haben. Der Tee riecht so gut. Nach Kirschen. Draußen wird es langsam hell. Der tiefschwarze Himmel fängt an blau zu leuchten. Am Anfang noch unmerklich und man muss ganz oft blinzeln, weil man glaubt, was an den Augen zu haben. Aber plötzlich ist es unübersehbar: der Nachthimmel ist nicht mehr schwarz, sondern von einem tiefen, pulsierendem blau.

Dieses Phänomen heißt ‚blaue Stunde‘, hat man mir erklärt. Und ich finde es schön, dass diese Zeit einen Namen hat. Es ist meine Lieblingszeit am Tag. Vor allem im Sommer, wenn draußen noch alles ruhig ist und schläft.

Jetzt, im Winter, habe ich mir eine Kerze angezündet, mich in eine Decke eingekuschelt und beobachte das Naturschauspiel. Es ist nicht ganz so idyllisch, wie ich es gerne hätte, da gegenüber das Schulzentrum liegt, wo morgens reges Treiben herrscht.

Ist aber nicht so schlimm. (Das versuche ich mir zumindest einzureden.)

Meine Zeit mit Gott fällt normalerweise ja ziemlich lang aus. Mindestens eine Stunde. Das tut sie nicht, weil ich meine, dass es immer so lange sein müsste. Sondern weil ich persönlich dieses Zeitfenster brauche, um runter zu kommen. Oder hoch zu fahren, je nachdem wie man’s nimmt. Je kürzer das Fenster, desto mehr laufe ich Gefahr nur einen Haken hinter ‚Stille Zeit‘ zu setzen. Und ich bin davon überzeugt, dass Gott am Ende davon genau so wenig begeistert ist, wie ich. Gemeinschaft braucht Zeit, braucht schweifende Gedankengänge. Vertrautheit hält gemeinsames Schweigen aus und genießt es sogar.

Wie immer sitze ich schräg im Sessel. So kann ich meine Wange gegen die Rückenlehne legen, kann die Augen zu machen und mir vorstellen, ich würde auf Gottes Schoß sitzen. Gehalten und gewärmt. Ich liebe diesen Gedanken. „Hier sitze ich, ich kann nicht anders.“ Ich stelle mir vor Gottes Herzschlag an meinem Gesicht zu spüren und seine flüsternde Stimme am Ohr zu hören, die leise und liebevoll mit mir spricht. Meistens verstehe ich nicht, was er sagt. Oder doch?

Wenn ich Gottes Stimme höre, verschieben sich bei mir Prioritäten. Manches Kleine wird plötzlich wichtig, z.B. die Freundin anzurufen, der es schon seit Wochen nicht gut geht. Oder jemanden aus dem Team eine Aufgabe abzunehmen, weil der sich um seine kranken Eltern kümmern muss. Anderen Aufgaben geht hingegen völlig die Luft aus. Z.B. den Blogtext noch ein fünftes Mal zu überarbeiten, damit er endlich perfekt ist. (Was er nach der fünften Überarbeitung genau so wenig ist, wie nach der zweiten.)

Irgendwann kommt die Zeit, wo mich das leise Summen meines Weckers aus den Gedanken reißt. Der Tag fängt an. Ich lasse mich von Gottes Schoß rutschen und muss lächeln, als Gott in meinen Gedanken hinter mir aufsteht und leise sagt. „Also dann, packen wir’s an. Ich komm mit.“

6 Comments

  • Sonja

    Liebe Tine – vielen Dank für deine Gedanken. Untypischerweise habe ich meinen Büro-Tag damit angefangen, deinen Blog zu lesen – und nun weiss ich warum. Es ist berührend, wie du dein Erleben mit Gott beschreibst, und ich bin dankbar dafür, dass du es mit uns teilst. In vielem finde ich mich wieder – du hast die Worte dafür. Danke!! Hab einen reich gesegneten Tag!

    • Tine

      Danke, liebe Sonja. Ich hoffe du hattest einen wundervollen Tag. Deine Kommentare sind so wertschätzend, dass ich nach dem Lesen immer ganz rote Backen hab. Danke.

  • Katrin

    Liebe Tine, wie schön dass du dir so viel Zeit für Gemeinschaft nimmst. Das hört sich nach dem perfekten Start in den Tag an, ganz ohne Stress und Hektik. Behalt dir das bei! Viele Grüße

    • Tine

      Danke, du Schätzin. Aktuell verteidige ich diese Zeit wieder 😉 Nachdem sie mir vor Weihnachten so völlig entglitten ist. Naja…du hast die Auswirkungen beim nachmittäglichen Telefonkaffee ja mitbekommen 😳

  • Vera

    diese wertvolle Zeit dürfen wir uns wirklich nicht rauben lassen. Bei mir gab es auch Phasen, in denen ich zwar die Bibel gelesen und Gott vielleicht noch ein kurzes Gebet hingeworfen, ansonsten jedoch alles schnell abgehakt habe. Wenn ich mich derzeit wieder um ca. 7.30 h aufs Sofa kuschle zünde ich auch immer eine Kerze an, halte meine Teetasse und da es noch eine Weile dauert, bis es hell genug ist um zu lesen, werde ich automatisch ausgebremst, komme erst mal zur Ruhe, gehe achtsamer in meine Zeit der Begegnung. Ich will versuchen, das beizubehalten.

    • Tine

      Liebe Vera, du hast so recht. Das mit dem Licht (dass es schlicht zu dunkel ist zum Lesen) ist mir noch nie bewusst aufgefallen. Am nächsten Tag hab ich, glaub ich, den halben Morgen selig vor mich hingegrinst, als ich im Dunkeln saß. Und bewusst das Licht aus gelassen und gebetet, anstatt gleich Bibel zu lesen. Danke.

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