alltägliches

Im Moment leben – ohne schlechtes Gewissen

Wieder ist es Morgen, wieder ist es der Balkon. Den Kaffee habe ich, mangels Tisch, in einem der Blumenkästen untergebracht. Ja, die Blumenkästen. Die Pflanzen leben noch immer. Entschuldigt, dass ich das in jedem zweiten Post betone. Ich muss einfach. Es ist ein Wunder. Die Pflanzen wachsen vor sich hin, wenn auch von der Sonne gezeichnet. Sie sind nicht mehr dunkelgrün, mit pinken und knallgelben Blüten sondern pastellfarben. (Noch drei Wochen und sie sind weiß.) Aber: sie leben!

Der Sommer hat seinen eigenen Rhythmus entwickelt.

Ich schlafe morgens länger und sitze Abends noch lange in dem kühler werdenden Wind auf dem Balkon. Allen Ratgebern für Menschen mit Homeoffice zum Trotz arbeite ich gerade überall, nur nicht am Schreibtisch. Allen Ratgebern zum Trotz, gehe ich morgen nicht als erstes ins Bad und style mich, als würde ich ins Büro fahren, sondern trage meine Lieblingsschlabberklamotten und die Bettfrisur den ganzen Tag lang. Allen Ratgebern zum Trotz, breche ich sämtliche meiner Alltagsregeln und es tut mir noch nicht mal leid.

Am Anfang hatte ich Schuldgefühle. Weil mein Sommeralltag so entspannt und zwanglos ist, während andere Menschen mit Morgenstau, unklimatisierten Arbeitsräumen, wärmenöhligen Kindern und durchwachten Nächten kämpfen müssen. Oder endlich in ihren heiß ersehnten Urlaub fahren können und dort die ganzen Privilegien erleben, die ich mir frech in meinen Alltag hole. Darf ich das?

Es ist schon verrückt, wie schwer es mir fällt mir einzugestehen, dass gerade wenig los ist und dass ich das absolut genieße. In meiner Familie stand Fleiß sehr weit oben im Ranking. Bis kurz vor seinem Schlaganfall antwortete mein Vater regelmäßig auf meine Verabschiedung: „Also dann, mach dir noch einen schönen Abend.“ mit einem pfeilschnellen: „Naja, ich muss schon noch einiges machen, ich geh nochmal ins Büro.“ Nicht zu arbeiten war nicht möglich. Selbst im Urlaub stapelten sich Zeitschriften und Zeitungen die nach lehrreichen Artikeln durchgesucht werden mussten, um diese dann zu archivieren. Ich habe meinen Vater nie gefragt, ob das schlicht sein Hobby war oder ob er Angst hatte als faul und als Versager zu gelten, wenn er einmal nicht etwas nützliches/anstrengendes/sinnvolles/schwieriges tat.
Ich habe das leider übernommen.

Aber nun sitze ich hier und genieße (fast) schamlos den Sommer.

Die Bibel sagt, dass alles seine Zeit hat. Vielleicht liegt darin der Zauber: dass man die Zeiten, in denen man sich gerade befindet annimmt und durchlebt, anstatt sie zu bekämpfen. Zu schlechten Zeiten zu stehen und sie zu durchleben, wenn sie an die Tür klopfen. Sich an hektischen Tagen mitreißen lassen oder die Momente der Ruhe genießen, anstatt schon an den nächsten Termin zu denken. Sich nicht dafür zu rechtfertigen, wie es einem geht. Weder in den dunklen Momenten, noch in den hellen. Gerade muss ich mich nicht zusammen reißen, also warum sollte ich es tun? So einfach dieser Gedankengang ist, so revolutionär ist er für mich.

Darüber muss ich nachdenken. Auf dem Balkon. Bei meinen lebendigen aber fast weißen Pflanzen. Ich glaube, ich hole mir noch einen Kaffee.

6 Comments

    • Tine

      Hallo Birte,
      aktuell kann man den Blog noch nicht abonnieren oder sich einloggen.
      Die Blog-Beiträge erscheinen aber immer Dienstags, also lohnt es sich, da reinzuschauen.

      Ein lieber Gruß zu Dir.

  • Doro

    Hallo,
    mit diesem Beitrag sprichst du mir so aus dem Herzen! Danke! Der Kopf ist so voll von diesen: Hätte..,Müßte.., Könnte.., dass unser Herz oft keine Chance hat mitzukommen. In mich hineinhorchen und mein Herz und meinen liebenden Gott zu Wort kommen lassen – dass übe ich auch gerade! Lg

    • Tine

      Hallo Doro,
      ja, du hast so recht. In sich hinein horchen und Jesus die Chance geben auch mal was zu sagen. Ich wünsch Dir ganz viel Segen und Entspannung beim Üben.
      Lieber Gruß
      Tine

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