alltägliches

Lesen im Sommer ist auch irgendwie wegfahren

Ein kleines Geschenk für alle, die zu Hause bleiben und nicht in die Sommerferien fahren.

Erinnerung

Alle zwei Wochen besucht Mama mit mir die Stadtbücherei. Immer dienstags. Jahrelang. Obwohl ich also jede Jahreszeit mehrmals erlebt haben muss, ist es in meiner Erinnerung immer Herbst. Nasskalter Herbst, mit großen Blätterhaufen, durch die ich nicht springen soll, weil ich sonst zu dreckig bin.
Die Bücherei selbst ist warm, erdbraunfarbig und trocken. Ich liebe die Atmosphäre. Leider sind die Menschen die hier arbeiten griesgrämig und schimpfen schnell. Ich muss an ihrem Tresen vorbei, wenn ich zu den Schätzen in der Kinderabteilung möchte. Bibliothekare sind wie die Sphinxen in der Unendlichen Geschichte – man darf ihnen nicht in die Augen sehen, sonst töten sie einen mit ihren Feuerblicken. (Zur damaligen Zeit weiß ich natürlich noch nichts von der Unendlichen Geschichte, aber das Sphinx-Prinzip ist mir bereits klar.)

Zur Kinderabteilung geht es erst rechts, dann links. Mama bringt mich hin und verschwindet dann um für sich Bücher auszuwählen. Einmal hat sie länger gebraucht und ich bin sie suchen gegangen. Dazu musste ich in die Erwachsenenabteilung. Die Regale sind hier viel höher als bei den Kindern und die Reihen erstrecken sich bis in die Unendlichkeit. Wenn man sich hier verläuft, findet man nie wieder zurück und muss als Buchgeist für immer zwischen den Regalen leben.
Mamas findet man hier drin übrigens auch nicht wieder. Ich habe einen Heulkrampf bekommen, was in einer Bücherei nicht gut ist, weil man da leise sein muss. Aber wenigstens hat Mama mich auf diese Weise gefunden. Nur gab es Schimpfe und viele ‚Psssssts‘ von allen Seiten. Seit diesem Erlebnis bleibe ich in der Kinderabteilung.

Zwei Bücher darf ich mir aussuchen, denn ich bin schon vier. Ich darf sie aus den Boxen nehmen, aber vorsichtig! Wenn ich zur Schule gehe, werde ich auch welche aus den Kinderregalen ziehen dürfen, darauf freue ich mich. Da sind viel weniger Bilder drin, aber Mama sagt, dass die Buchstaben Bilder im Kopf malen, wenn man lesen kann. Das ist aufregend. Ich spüre ein Ziehen im Bauch und kurz darauf muss ich aufs Klo. Ich muss immer aufs Klo, wenn wir hier sind. Zum Glück kommt Mama gerade zurück und geht mit mir. Sie kennt das schon.
Dann geht sie an den Tresen, gibt die alten Bücher zurück und leiht die neuen aus, während sie mit einer Sphinx spricht. Meine Mama ist sehr mutig. Sie legt die Bücher in ihren Korb und wir gehen durch den Park nach Hause. Jetzt darf ich durch die Blätterhaufen waten.

Gegenwart

In der Stadtbücherei ist es kühl. Die Klimaanlage tut ihre Pflicht und der lindgrüne Linoleumboden steuert das Seinige bei. Dieses Grün sorgt gewissenhaft dafür, dass sich bei den Besuchern, trotz der angebotenen Polstermöbel, ein Gefühl der Kälte breitmacht. Das stört mich gerade im Winter sehr. Denn was gäbe es schöneres als bei dem Geruch von Büchern hinter großen Fensterscheiben zu sitzen und auf die nasskalten Straßen einer verträumten schwäbischen Kleinstadt zu sehen. Die Farbgebung verhindert jedoch erfolgreich, dass ich mich länger als nötig in den Räumen aufhalten möchte. Heute ist es aber okay, ich fühle mich…abgekühlt…als ich das Gebäude betrete, was bei 35 Grad im Schatten recht angenehm ist.

Die Frau hinterm Tresen grinst zu mir herüber und winkt kurz, bevor sie sich wieder den zwei kleinen Mädchen zuwendet und ihnen mit leuchtenden Augen von den Welten in den Büchern erzählt. Ich muss lächeln. Hier ist es so anders als auf dem Büchereiplaneten meiner Kindheit. Auch wenn ich diese Welt im Herbstpark vermisse. Ich habe schon mehrfach überlegt, ob ich einfach mal hinfahren sollte. Aber im Park wäre gerade Sommer, den Sphinxen würde ich auf Augenhöhe begegnen, falls sie nicht längst pensioniert sind, die Erwachsenenabteilung würde sich wohl nicht über die Gebäudegrenzen hinweg ausdehnen und ich würde meine Mama nicht zwischen den Regalreihen finden, egal wie sehr ich weine. Und falls doch, würde ich nicht weinen, sondern schreien. Nein, es wäre nicht das gleiche.

Die Bücherei steht in der Mitte der Altstadt und ich bin, trotz der nüchternen Atmosphäre, gerne hier, halt immer nur kurz. Heute bin ich zappelig. Die moderne Wendeltreppe lockt. Normalerweise bleibe ich im Erdgeschoss, denn da stehen die Bastelkrambücher. Manchmal gehe ich auch nach unten zur Fachliteratur und den Reiseführern. Doch heute möchte ich nach oben. Dorthin, wo die Romane stehen. Die Belletristik, die Krimis und Thriller, die Dramen und die Essays. Die Tore zu fremden Welten. Ein Tanz aus Buchstaben, der in der Lage ist, mich in andere Länder und in die Leben anderer Menschen zu ziehen. Die Auswahl der Bücher wird darüber entscheiden, ob ich heute Abend lache oder weine, ob ich meine nächsten Tage in der tropischen Hitze des brasilianischen Urwaldes oder in den eisigen Kälten des russischen Winters verbringe. Ich spüre ein Ziehen im Bauch und Sekunden später muss ich aufs Klo. Also doch erstmal ins Untergeschoss zu den Toiletten, wie immer.

Dann beginne ich meinen Aufstieg in das obere Stockwerk und komme mit jedem Schritt meinem Abenteuer näher.

Wo wirst du deinen Sommer verbringen?

***

Meine Gebetsreise hat übrigens begonnen. Und zwar mit Ole Hallesby – eine Schule des Gebets. Es gilt als Klassiker und ich dachte, es wäre ein guter Einstieg. Ich werde berichten. 🙂

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