Vom Sterben
Es ist kein normaler Sonnenaufgang. Ich bin von Sonnenaufgängen ziemlich verwöhnt und genieße sie jeden Morgen. Die intensiven oder verwaschenen Farben. Die Einzigartigkeit. Doch dieser Sonnenaufgang ist anders. So anders, dass ich im Laufe des Tages viele Fotos davon im Whatsappstatus meiner Freunde sehen werde.
Die Farben über den Häusern sind atemberaubend. Der Himmel explodiert in tiefem Orange und dunklem Rot, gemischt mit helleren Pastellfarben. Er erstreckt sich über den ganzen Weltausschnitt, den ich durch die Frontscheibe meines Autos sehen kann. Er ist überall. Es ist unwirklich. Und verstörend. Als wäre dem Bühnenbildner die falsche Kulisse untergekommen und nun passt das aufgeführte Stück nicht mehr zum Hintergrund. Ich bin mit einem Freund auf den Weg zu einem Termin beim Bestatter. Wir werden die Beerdigung seiner gestern verstorbenen Frau besprechen.
Der trauernde Witwer neben mir erwacht kurz aus seiner Katatonie und schaut auf den Himmel. „Ist das echt?“
Ist das echt? Ich weiß es nicht. Es fühlt sich nicht echt an. Die Welt fühlt sich seit ein paar Tagen nicht mehr echt an. Seit ich bei meiner Freundin am Sterbebett saß, fühlt sich die Welt nicht mehr echt an. In den ausgemergelten Zügen meiner Freundin spiegelten sich die verzerrten Zügen meiner Mutter von vor zehn Jahren. Flashbacks und Unwirklichkeit.
Nein, es fühlt sich nicht mehr echt an, seit der kleine Sohn meiner Freundin in Tränen ausgebrochen ist. Er hat zugelassen, dass wir für seinen Vater und seine Mutter beten und auch für ihn selbst. Aber er merkte auch verzweifelt an, dass wir lieber seiner Mama helfen sollen, statt nur zu beten. Hilflosigkeit. Wir feierten gemeinsam das Abendmahl. Ein letztes Mal. Das nächste Mal werden wir es gemeinsam im Himmel feiern. Wenigstens das ist sicher. Aber das ist kein Trost für einen Elfjährigen. Nicht mal annähernd.
Ich fühle mich hilflos. Auch jetzt hier im Auto. Der Tag der vor uns liegt macht mir Angst. Die Gespräche, die Entscheidungen, das Begleiten eines Mannes, der in seinem größten Albtraum feststeckt.
Die Worte der Bibel kommen mir seltsam weit weg vor. Das Versprechen vom ewigen Leben. Die Zusage der Nähe und Gegenwart Gottes. Das Wissen darum, dass einmal alle Tränen abgewischt werden. Heute werden sie nicht abgewischt. Heute ist die Hoffnung ein verzweifeltes Festhalten an etwas, das man weder sieht noch erlebt. Ein Riss in der Wirklichkeit. Ein Hängen über dem Abgrund und die stumme, schreiende Bitte an Gott, dass er auch dann nicht loslässt, wenn meine eigene Kraft zum Festhalten nicht mehr reicht.
Und in all den verstörenden Gefühlen die tiefe Dankbarkeit, mehr im Kopf als im Herzen, dass wir einen Gott haben, der uns nach Hause trägt. Der uns nicht allein lässt und der nicht auf unsere Kraft baut, sondern auf seine eigene. Der nicht auf unsere Taten sieht, sondern auf die seines Sohnes Jesus Christus. In Momenten wie diesen, wo meine eigene Schwäche, meine Ängste und Zweifel so groß werden, dass ich sie nicht mehr leugnen kann, in diesen Momenten bin ich einfach nur dankbar, dass Gott ist wie er ist.
Der Morgenhimmel verblasst und geht in einen eiskalten Tag über, als wir auf dem Parkplatz des Bestattungsinstituts ankommen. Die Minusgrade treffen mich beim Aussteigen wie eine Ohrfeige, für die ich aber recht dankbar bin. Die Welt hat mich wieder.
Im Stillen gebe ich auch den Mann neben mir in Gottes Hände ab. Nur Gott kann ihn jetzt halten. Ich darf ein Stück des Weges begleiten und vielleicht kann ich helfen. Vielleicht bin ich aber auch einfach nur da und bin gar keine Hilfe. Ich gebe mein Bestes. Der Rest liegt in Gottes Hand. Gott sei Dank.
2 Comments
christina
Du findest Worte für das Unsagbare, liebe Freundin. Worte die echt sind. Und ein tiefest Echo in mir finden. DANKE. Auch für das dunkle Wegstück das du mitgegangen bist.
Tine
Du Liebe. Ich bin so dankbar, dass es dich gibt und dass du beim Abendmahl mit dabei warst. Deine liebevolle Art mit Menschen umzugehen beeindruckt mich immer wieder. Du bist wunderbar.