Von Zügen, Pfützen und dem plötzlichen Gefühl von zu Hause
Plötzlich war es da: das Gefühl von ‚zu Hause‘. Es kam bei einem Abendspaziergang zwischen Hochhäusern und ich spürte…hier gehöre ich hin. Und ein zweiter Gedanke kam gleich hinterher in Form einer Frage: Welche Art Mensch bekommt an dunklen, verregneten Januarabenden zwischen Hochhäusern Heimatgefühle?!
Aber zu leugnen war es auch nicht. Ein warmes, sanft leuchtendes Gefühl in mir drin, irgendwo in Herznähe. Und mit dem Gefühl kam die Erkenntnis: ich will hier nicht weg. Ich möchte diese Welt nicht verlassen. Ich möchte niemals jemals sterben müssen. Ich möchte für immer hier bleiben, hier wo es vertraut ist und ich an verregneten, viel zu warmen Winterabenden in Pfützen springen kann. Ich springe in eine Pfütze. Ein Hoch auf wasserfeste Damenstiefel!
Eigentlich behaupte ich von mir: „Mein Herz ist im Himmel zu Hause, nicht hier auf der Erde.“ Und ich meine das auch so. An vielen Tagen ist meine Sehnsucht nach dem Himmel übermächtig. Aber heute, an diesem verregneten Winterabend ist der Himmel unendlich weit weg. Heute möchte ich einfach das bewahren, was ich habe.
Mit dem frühen Tod meiner Eltern kommen die Gedanken an’s Sterben immer mal wieder. Die Frage danach, wie es wohl ist, wenn man alles was man liebt hinter sich lassen muss.
Der Tod meiner Schwiegeromi war anders als der meiner Eltern. Ihr Abschied war kein Kampf um jede Minute, war kein Herausgerissenwerden aus dem Leben. Ihr Abschied war ein ungeduldiges Warten. Als würde sie schon lange im Zug sitzen, die Habseligkeiten verteilt, die Wohnung gefegt, der Schlüssel übergeben. Und dann saß sie dort, in dem eigens für sie reservierten Abteil, die Koffer ordentlich verstaut, das Taschentuch griffbereit, um noch einmal zu winken, wartend auf den Pfiff und das Schließen der Zugtüren. Ihr Abschied war nicht nur loslassen, er war auch Vorfreude.
Wie oft hat sie mit ihren fast 100 Jahren geseufzt und halb im Scherz vor sich hingebrummt: „Jesus hat mich anscheinend vergessen.“ Als ihr Abschied dann kam, war es Aufbruch, statt Zurücklassen. Eine Reise nach Hause. Jesus hat sie nicht vergessen. Er war nur mit uns gnädig und hat uns diese Heldin des Gebets so lange wie möglich gelassen.
Gedankenverloren steige ich über eine Pfütze. Wieso fällt es mir so schwer mir den Himmel vorzustellen?
Flannery O’Conner beschreibt es in einem ihrer Tagebucheinträge so: „Wenn wir den Himmel genau kartographieren könnten, würden einige unserer aufstrebenden Wissenschaftler damit beginnen, Entwürfe für seine Verbesserung zu zeichnen.“ Vielleicht deshalb. Vielleicht auch, weil es uns schwer fällt, uns einen Ort ohne Leid vorzustellen. Oder einen Ort ohne Betonhochhäuser und Winterpfützen…okay…das vielleicht schon.
Heute Abend ist hier mein zu Hause. Aber ich möchte wie meine Schwiegeromi einmal nicht an dem Ort festhalten, den ich hier habe, sondern auf das zugehen, was mich erwartet. Mutig und neugierig, an der Hand dessen, dem ich mein Leben verdanke und der mich sicher nach Hause bringt.
So lange springe ich zwischen Hochhäuser in Pfützen oder steige drüber. Vergesse wie alt ich bin, vergesse, das Beton eigentlich nicht meine Lieblingsfarbe ist und freue mich an der Vertrautheit.
3 Comments
Judith
Toller Text! Danke!
LG Judith
antschana
Oh Tine …. DANKE!!
Franz Weber
❤️